Rechtsänderungen 2024 Medizinalcannabis
1 Überblick über die wichtigsten gesetzlichen Änderungen 2024
1.1 Das MedCanG
Die wichtigsten Änderungen des MedCanG:
- Reklassifizierung: Cannabis wird aus dem BtMG gestrichen und als klassisches verschreibungspflichtiges Arzneimittel (Rx) eingestuft (Ausnahme: Nabilon).
- Wegfall der BtM-Gebühren von 4,26 €.
- Verlängerung der Gültigkeit von Rezepten von 7 Tagen (BtM) auf 28 Tage (Rx) bzw. 3 Monate für Selbstzahler.
- Abstandsregelung von 100 Metern zu Schulen/Kindergärten gilt nun auch für Patient:innen.
- Verschreibungsfreiheit: Die „therapeutische Alternativlosigkeit“ nach BtMG § 13 Abs. 1 entfällt. Eine besondere Rechtfertigung der Cannabis-Verschreibung ist nicht mehr erforderlich.
- Dokumentationsvereinfachung: Medizinal-Cannabis unterliegt nicht mehr dem Abgabebelegverfahren nach der BtMBinHV.
Unveränderte Regelungen zu Medizinalcannabis
- Trotz der Anpassung des THC-Grenzwerts im Straßenverkehr auf 3,5 Nanogramm je Milliliter Blutserum ändert sich für Cannabis-Patient:innen im Straßenverkehr nichts.
- Cannabis bleibt ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel.
- Die Abgabe erfolgt ausschließlich gegen Rezept in Apotheken.
- Zahnärzt:innen und Tierärzt:innen dürfen weiterhin kein Medizinal-Cannabis verschreiben.
- Die Freizeitkonsum-Höchstmengenregelung von 25 g gilt nicht für Patient:innen.
- Medizinal-Cannabis bleibt ein Rezepturarzneimittel: Es muss die erforderliche pharmazeutische Qualität aufweisen und nach pharmazeutischen Standards in der Apotheke hergestellt (inklusive Umfüllen) und geprüft werden.
- Bei Rezepturarzneimitteln ist weiterhin kein Aut-idem-Kreuz möglich.
1.2 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie Abschnitt N § 45
Die wichtigsten Änderungen des Beschlusses:
- Benennung bestimmter Facharztbezeichnungen sowie Schwerpunktbezeichnungen, die nun ohne vorherige Genehmigung Cannabisarzneimittel unter Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen verschreiben dürfen.
Anforderungen an die Qualifikationen der verordnenden ärztlichen Person:
Die Anforderung an die ärztliche Qualifikation ist erfüllt, wenn alternativ eine der unten genannten Facharzt-, Schwerpunkt- oder Zusatzbezeichnungen nach (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 (in der Fassung vom 25.06.2022) von der verordnenden Vertragsärztin bzw. dem verordnenden Vertragsarzt geführt wird:
Facharzt- und Schwerpunktbezeichnungen
- Fachärztin/Facharzt für Allgemeinmedizin
- Fachärztin/Facharzt für Anästhesiologie
- Fachärztin/Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit Schwerpunkt Gynäkologische Onkologie
- Fachärztin/Facharzt für Innere Medizin
- Fachärztin/Facharzt für Neurologie
- Fachärztin/Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Zusatzbezeichnungen
- Geriatrie
- Medikamentöse Tumortherapie
- Palliativmedizin
- Schlafmedizin
- Spezielle Schmerztherapie
Unveränderte Regelungen
- Die Verordnungsvoraussetzungen nach § 44 beinhalten weiterhin:
- Eine schwerwiegende Erkrankung muss vorliegen.
- Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht nicht zur Verfügung.
- Eine „nicht ganz entfernt“ liegende Aussicht auf eine positive Wirkung muss bestehen.
- Ärzt:innen können freiwillig Anträge stellen, wenn Unsicherheiten über die Erfüllung der Verordnungsvoraussetzungen bestehen.
2 Schritt für Schritt zur Verschreibung von medizinischem Cannabis
A) Überprüfung der Therapievoraussetzungen
Die schwerwiegende Erkrankung
Was versteht der Gemeinsame Bundesausschuss unter einer „schwerwiegenden Erkrankung“? Nach § 12 Abs. 3 d Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): „Eine Krankheit ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.“
Was versteht der G-BA unter „chronisch und schwerwiegend krank“? Nach § 2 Abs. 2 Chroniker-Richtlinie des G-BA zur Umsetzung der Regelungen in § 62 für schwerwiegend chronisch Erkrankte: „Eine Krankheit ist schwerwiegend chronisch, wenn sie wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und eines der folgenden Merkmale vorhanden ist:
- Pflegebedürftigkeit des Pflegegrades 3, 4 oder 5 nach dem SGB XI
- Grad der Behinderung (GdB) oder ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 60 oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 %
- Es ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die aufgrund der Krankheit verursachte Gesundheitsstörung zu erwarten ist.
Nicht zur Verfügung stehende medizinische Leistungen
Es muss dargelegt werden, inwiefern eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht verfügbar ist oder im Einzelfall nach ärztlicher Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung desKrankheitszustandes nicht angewendet werden kann
Mögliche Gründe hierfür können unteranderem folgende sein:
- UnerwünschteWirkungen, die eine Fortführung der Behandlung unmöglich machen
- Fehlende Patientencompliance, die den Therapieerfolg beeinträchtigt
- Unzumutbarkeit der Behandlung aufgrund individueller Belastungen oder Risiken
- Kontraindikationen, die eine Anwendung der Standardtherapie ausschließen
- Vorliegen von Allergien oder Unverträglichkeiten gegenüber den eingesetzten Arzneimitteln
- Spezielle patientenspezifische Faktoren, die eine Anpassung des Behandlungsplans erfordern
Aussicht auf positive Einwirkung
Bei der Verschreibung von Cannabinoidarzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse muss eine begründete Aussicht auf eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen. Diese Einschätzung sollte auf einer soliden Evidenzbasis beruhen, wobei systematische Literaturübersichten die höchste Aussagekraft besitzen, gefolgt von randomisierten kontrollierten Studien und schließlich Echtweltdaten.
Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA, stellte klar: „Um Missverständnisse zu vermeiden, werden keine spezifischen Krankheitsbilder genannt, da der Genehmigungsvorbehalt nicht auf bestimmte Erkrankungen beschränkt ist.“
Die Anforderung einer evidenzbasierten Verschreibung gilt für alle Fälle – unabhängig davon, ob diese mit oder ohne vorherige Genehmigung erfolgen. Es ist daher ratsam, sich stets am aktuellen Stand der wissenschaftlichen Evidenz zur Wirksamkeit von Cannabis zu orientieren.
Wie ist der Evidenzstand zur Wirksamkeit von Medizinalcannabis?
Die Beurteilung der Evidenzlage zur Wirksamkeit von Medizinalcannabis ist komplex. Die Verfügbarkeit von Evidenz hängt oft von der Häufigkeit der Erkrankung ab, nicht zwangsläufig von der Wirksamkeit der Cannabinoide selbst.
Aktuell werden THC folgende Wirkungen zugeschrieben:
- Antiemetisch
- Analgetisch
- Antispasmodisch
- Appetitanregend
→ Symptomatische Wirkungen bei Erkrankungen, die diese pathologischen Dimensionen aufweisen, können daher argumentativ gestützt werden.
Laut einer systematischen Übersichtsarbeit von Bilbao und Spanagel (2022) wird medizinischen Cannabinoiden ein insgesamt positiver therapeutischer Effekt (mittlere Evidenzlage) zugeschrieben bei:
- Epilepsie
- Chronische Schmerzen
- Spastizität
- Appetitlosigkeit
- Parkinson-Krankheit
- Schlafstörungen
- Substanzgebrauchsstörungen (SUDs)
- Tourette-Syndrom
Leitindikationen auf Basis deutscher Praxisdaten umfassen:
- Neurologische und psychiatrische Erkrankungen
- Onkologische Erkrankungen
- Infektiöse Erkrankungen
- Geriatrische Erkrankungen
- Erkrankungen des Verdauungssystems
B) Die Krankenversicherung des Patienten / der Patientin
Die diskutierten Verordnungsvoraussetzungen gelten für GKV-Patient:innen.
Bei PKV-Patient:innen besteht grundsätzlich kein Genehmigungsvorbehalt gegenüber einer Therapie mit medizinischem Cannabis.
Die Kosten der Therapie werden prinzipiell entsprechend der Musterbedingung der PKV (MB/KK 2009) bei medizinischer Notwendigkeit übernommen.
Es handelt sich aber bei der Entscheidung über die Kostenübernahme auch bei der PKV um eine Einzelfallentscheidung und ist abhängig von Tarif und Eignung der Behandlungsmethode.
C) Überprüfung der möglichen Antragsstellung
Infobox: Wirtschaftlichkeitsprüfung und Regress
Um Risiken im Zusammenhang mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressforderungen zu minimieren, sollten Ärztinnen und Ärzte:
Die geltenden Verordnungsvoraussetzungen vor jeder Verschreibung sorgfältig prüfen.
Die Hauptpunkte der Entscheidung zur Cannabinoidtherapie für jeden Patienten umfassend dokumentieren, und
Bei jeglichen Unsicherheiten frühzeitig einen freiwilligen Antrag auf Genehmigung stellen.
D) Antragstellung bei der Krankenkasse
Der Antrag zur Kostenübernahme für eine Cannabinoidtherapie wird grundsätzlich durch den Patienten bzw. die Patientin gestellt.
Der Antrag sollte folgende Unterlagen enthalten:
- Ausgefüllter Arztfragebogen zu Cannabinoiden gemäß § 31 Abs. 6 SGB V. Den entsprechenden Fragebogen finden Sie auf der Website des Medizinischen Dienstes Bund (MD Bund).
- Gegebenenfalls unterstützende Literatur, die die Einschätzung der therapeutischen Wirksamkeit stärkt.
Bearbeitungsfristen für den Antrag:
- Entscheidung der Krankenkasse: Innerhalb von 2 Wochen.
- Bei Hinzuziehung des Medizinischen Dienstes: Insgesamt 4 Wochen.
Ausnahmen mit verkürzten Fristen:
- Allgemeine ambulante Palliativversorgung: Entscheidung innerhalb von 3 Tagen.
- Verordnungen im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung: Entscheidung innerhalb von 3 Tagen.
E) Ausfüllen des Rezepts
Seit dem 1. April 2024 unterliegen Cannabinoidarzneimittel nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz. Damit werden sie per elektronischem Rezept verschrieben, wie andere herkömmliche verschreibungspflichtige Arzneimittel (Rx) auch.
Eine Ausnahme bildet das synthetische Cannabinoid Nabilon, welches weiterhin dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt.
Da es sich um magistrale Arzneimittel handelt, müssen folgende Informationen auf dem Rezept vermerkt werden:
- Bezeichnung zu [Menge Einheit] Bezeichnung Anwendungsform (NRF Angabe), gemäß schriftlicher Gebrauchsanweisung [Anwendungsart; Dosierung, Anwendungszeitpunkt, Häufigkeit; Behandlungsdauer]
Beispiel:
Ölige Cannabisölharz-Lösung, PZN [30 mL; 25 mg/mL THC] zur oralen Einnahme (NRF 22.11). Gemäß schriftlicher Gebrauchsanweisung: [0,1 mL pro Tag, schrittweise Erhöhung nach Titrationsschema; 2x täglich; für 1 Monat].
Welche Cannabinoidarzneimittel können verschrieben werden?
- Dronabinol
- Dronabinol-Kapseln zu 2,5 bzw. 5 oder 10 mg (NRF 22.7)
- Dronabinol-Tropfen 25 mg/ml (2,5 %ige) ölige Lösung (NRF 22.8)
- Ethanolische Dronabinol-Lösung 10 mg/ml zur Inhalation (NRF 22.16)
- Cannabisölharz „Cannabisextrakt“
- Ölige Cannabisölharz-Lösung 25 mg/ml Dronabinol (NRF 22.11)
- Getrocknete Cannabisblüten
- Cannabisblüten zur Inhalation nach Verdampfung (NRF 22.12)
- Cannabisblüten in Einzeldosen zur Inhalation nach Verdampfung (NRF 22.13)
- Cannabisblüten zur Teezubereitung (NRF 22.14)
- Cannabisblüten in Einzeldosen zur Teezubereitung (NRF 22.15)
- Weitere
- Fertigarzneimittel zur Behandlung von Spastizität bei Multipler Sklerose: Sativex (THC:CBD) oromucosales Spray
- Nabilon/Canemes (synthetisches Arzneimittel, weiterhin Betäubungsmittel)
Literatur
- Bilbao A, Spanagel R. Medical cannabinoids: a pharmacology-based systematic review and meta-analysis for all relevant medical indications. BMC Med. 2022;20(1):259.